Bei der Planung unserer Anreise von Tel Aviv zu unserer ersten Farm fiel uns die Lage des Ortes sofort ins Auge: auf Google Maps liegt Sha’arei Tikva hinter der Grünen Linie und somit im offiziell als Westjordanland bezeichneten palästinensischen Gebiet. Da unsere Gastgeber hebräische Namen hatten, war uns nicht ganz klar, auf was wir uns dort einlassen würden: sind unsere Gastgeber sogenannte „Siedler“? Also Israelis, die illegal aber unter staatlicher Duldung palästinensisches Land bebauen und bewirtschaften? Wie würde es sich für uns anfühlen in einer Siedlung zu leben, in der möglicherweise die Überzeugung herrscht, dass das gesamte Gebiet vom Jordan bis zum Mittelmeer den jüdischen Israelis, und nicht etwa den dort möglicherweise zuvor ansässigen arabischen Palästinensern gehört?
An dieser Stelle ist vielleicht bereits zu erahnen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt hier vor Ort plötzlich nichts Abstraktes mehr ist. Er ist real und allgegenwärtig. Eine Reise nach Israel kann man nicht unternehmen und weiterhin so tun, als „hätte man mit Politik eigentlich nichts am Hut“. Mit einem Mal sind Themen an der Tagesordnung, die ich in Deutschland meist weit von mir weg schieben konnte, zugehörigen Ausreden derer gab es viele: von zu viel Arbeit im Alltag, keine Zeit die Nachrichten zu verfolgen, „Betrifft mich ja nicht direkt.“ bis hin zu „Es gibt im Moment Wichtigeres.“. Abgesehen davon, dass dieser über Jahrzehnte andauernde Konflikt inzwischen so viele neue Facetten und Verwicklungen hinzugewonnen hat, was es schwierig macht, in den Kategorien falsch oder richtig zu denken.

Wo sind wir hier?
Trotz der Unklarheiten entschieden wir uns dafür, nach Sha’arei Tikva zu fahren. Mit dem Bus passierten wir keinen Checkpoint, obwohl die Grenzlinie auf Google Maps solches hatte vermuten lassen. Aber uns stach eines sofort ins Auge: entlang der Autobahn schlängelte sich ein 100 bis 200 Meter breiter Grenzstreifen, der mehrfach durch unüberwindbar hohen Stacheldraht abgesichert war. Wo sind wir hier?, fragten wir uns. Unsere Gastgeber würden uns aufklären, aber dazu später mehr.
Unsere Gastgeber empfingen uns herzlich, ebenso wie zwei andere Freiwillige, die am Vortag angereist waren. Der erste Eindruck, da sind wir ganz ehrlich, war gemischt. Für die Freiwilligen gibt es im Keller des Hauses ein gemeinsames Zimmer mit zwei Einzel- und einem französischen Bett, dazu einen Gemeinschaftsraum mit Küche und ein Badezimmer. Der „Schlafsaal“ hat keine Fenster, während alle anderen Räume liegen zur Nordseite und bekommen somit zumindest etwas Tageslicht ab. Die Räume wirkten im ersten Moment kahl und etwas lieblos, zudem gab es keine Heizung und die erste Nacht froren wir wie Schlosshunde (ich war froh, meine eigene Heizung namens „Krischan“ mitgebracht zu haben 😉). Zum Kochen gibt es einen Gasherd, aber lediglich einen kleinen Topf, dazu einen Wasserkocher und einen Mini-Backofen. Die ersten Tage teilten wir uns die Räumlichkeiten mit den zwei anderen Freiwilligen, zwei junge Abiturienten aus Deutschland. Wir gingen abends nach der Arbeit zusammen im örtlichen Supermarkt einkaufen und kochten zusammen – die zwei waren nett, aber wirklich warm wurden wir nicht miteinander, was sicherlich auch den Gesamtumständen geschuldet war. Nach fünf Tagen reisten die zwei aber sowieso weiter zu ihrer nächsten Station, was für uns einen deutlichen Gewinn an Privatsphäre und eine Akklimatisation in unserem Tempo erlaubte. Auf neue Lebensumstände kann man sich gedanklich zwar ein bisschen vorbereiten, aber wenn man drinsteckt, ist es eben doch nochmal was anderes.
Das Haus liegt an einem Hang, oben gibt es einen zwischen hohen Palmen, Mandarinenbäumen und anderen Büschen und Bäumen versteckten, ebenerdigen Eingang zur Wohnung unserer Gastgeber. Links vom Haus führt eine Treppe nach unten zum ebenerdigen Eingang zur zweiten Wohnung, in der sich neben den Räumlichkeiten für die Freiwilligen ein Gästezimmer und ein Behandlungsraum für Gemmas Heiltherapien befinden. Wenn wir aus unserer Wohnung treten, befinden wir direkt im Garten. Hier stehen wunderschöne Zitronen-, Pomelo-, Feigen-, Oliven- und Granatapfelbäume, es gibt eine Hängematte und einen Pool, der zurzeit allerdings viel zu kalt ist, um ihn zu benutzen. Darüber hinaus haben sich unsere Gastgeber vergangenes Jahr einen Hühnerstall gebaut und halten sich eine Handvoll Hühner, die vermutlich ab März, entsprechend ihres natürlichen Zyklus, wieder Eier legen werden. Hinter dem Haus liegen etwa 300 Meter öffentliches Land, das an dem dem Haus gegenüberliegenden Ende durch den – da ist er wieder – Grenzstreifen vom dahinterliegenden palästinensischen Gebiet getrennt ist. Wo sind wir hier eigentlich? Unsere Gastgeber klären uns über Sha’arei Tikva auf: es handelt sich um eine bereits mehrere Jahre alte, illegale Siedlung auf palästinensischem Gebiet, die im Zuge des Grenzzaunbaus Netanyahus de facto in israelisches Staatsgebiet einverleibt wurde. Unsere Gastgeber haben sich vor etwa zwei Jahren dazu entschieden, das Haus mitsamt des zugehörigen Gartens zu mieten und die außergewöhnliche Lage der Farm zu nutzen, um langsam, aber stetig Kontakt zu Familien und Anwohnern auf der anderen Seite des Zauns aufzubauen und gemeinsam einen Food Forest „über den Zaun hinweg“ aufzubauen – mit dem Ziel durch unmittelbaren Kontakt ein Zeichen des Friedens und ein Netzwerk des Austauschs aufzubauen. Ein Frieden zwischen Israelis und Palästinensern, so sagten sie selbst, erscheint ihnen nur möglich, wenn die Menschen Beziehungen zueinander aufbauen und im Kleinen nach und nach jahrzehntealte Vorurteile abbauen können. Zu einem solchen Vorhaben, so habe ich hier inzwischen gelernt, gehören eine große Portion Mut, Ausdauer und vor allem aber Offenheit und ein großes Herz.
Das öffentliche Land zwischen dem Haus und dem Grenzzaun steht voll mit Olivenbäumen. Die Bäume gehören palästinensischen Familien, die vom israelischen Staat eine Sondergenehmigung bekommen, um nach Israel einreisen zu dürfen, um die Oliven zu ernten. Somit ist die israelische Regierung den Palästinensern zumindest dahingehend entgegengekommen.

Unser Arbeits“alltag“
Von einem Alltag können wir hier eigentlich nicht so recht sprechen. Das Einzige, das jeden Tag gleich ist, ist dass wir unsere Arbeit um 7.30 Uhr beginnen. Meist starteten wir mit Instandhaltung und einer kurzen Besprechung des Tagesablaufs (so manches Mal ergänzt um eine halbstündige Meditation, geleitet durch einen der beiden). Bei der Instandhaltung fegen wir die Bereiche um das Haus und den Pool herum und befreien alles von heruntergefallenen Blättern und Früchten (die Oliven und Granatäpfel waren vor einigen Wochen erntereif, derer aber auch äußerst zahlreich vertreten, sodass unsere Gastgeber gar nicht mehr wussten, wohin damit) und bringen in die ein oder andere Ecke etwas mehr Ordnung, wobei wir hier selbst entscheiden können, worauf wir unseren Fokus legen. An einem Tag haben wir beispielsweise große Steinplatten im Garten von Erde und altem Laub befreit und damit deutlich mehr begehbaren Weg geschaffen.
Sonntags, dienstags und donnerstags machen wir gemeinsam mit unseren Gastgebern von etwa 8.30 bis 10.00 Uhr Yoga, was eine wunderschöne morgendliche Routine darstellt – insbesondere nachdem man schon für etwa 45 Minuten draußen gearbeitet hat. In Deutschland hatte ich mir immer vorgenommen, eine kurze Yogasequenz in meine „Morgenroutine“, wie es auf Insta-Deutsch so gerne genannt wird, einzubauen, bin aber kläglich an meinem inneren Schweinehund gescheitert und regelmäßig viel zu spät zu Bett gegangen. Abgesehen davon, dass ich mich morgens noch vollkommen unbeweglich und steif und überhaupt nicht wie ein Yogi fühle. Nach der ersten Woche kamen dann noch montags und mittwochs, wenn auch unregelmäßig, Zumba-Stunden von Krischan hinzu – herrlich! Gute-Laune-Musik, Tanzen und fröhliche Menschen, denn Zumba macht gute Laune, am Morgen würde ich wirklich gerne in meinen Alltag einbauen!
Anschließend beginnen wir wieder mit der Arbeit. Da für den Gemüseanbau Beete angelegt werden, haben wir in den ersten Tagen Erde abgebaut, von größeren Steinen befreit und in ein mit einer niedrigen Steinmauer umrissenes Beet geschafft. Später holten wir den Großteil der Erde für das Beet aus einer gut begehbaren Höhle, deren Boden sowieso ein paar Zentimeter tiefer gelegt werden sollte. In der zweiten Woche machten wir uns daran, den Hühnerstall mit einem Regenschutz zu versehen, gründlich auszumisten, mit Draht gegen grabende Eindringlinge zu verstärken und die Innenausstattung vielfältiger zu gestalten. Jetzt schlafen die Hühner im Trockenen und auf einer Stange – und natürlich schlafen alle eng gedrängt auf einer einzigen Stange, obwohl mehrere zur Verfügung stünden – und Eindringlinge haben keine Chance mehr. Auf das Ergebnis der Arbeit waren wir äußerst stolz und es hat uns ein paar Überstunden eingebracht, die wir später abfeiern durften.

Die dritte und größte Aufgabe besteht im Vergrößern der oben erwähnten Höhle. Sie liegt direkt unterhalb des Grundstücks auf dem öffentlichen Gelände, wird von unseren Gastgebern aber für Meditationen, Sitzkreise, Workshops und vieles mehr genutzt. Als wir ankamen, konnte man gerade so in der Mitte der Höhle stehen. Inzwischen haben wir teilweise bis zu 80 Zentimeter an Höhe gewonnen und dafür Unmengen an Steinen und Eimern an Erde herausgetragen. Bis zu unserer Abreise wollen wir eine neue Steintreppe gebaut und alles eingeebnet haben, sodass unsere Gastgeber die Höhle wieder für ihre Workshops anbieten können. Es ist schwere körperliche Arbeit, die Krischan und ich zum Großteil alleine bewältigt haben, aber äußerst genießen. In unserer dritten Woche hier hat es fast durchgängig stark geregnet, sodass wir in unsere Wohnung verbannt waren. Wir nutzten die Zeit für Recherchen über Organisationen für mögliche Kooperationen und Unterstützung für die Vorhaben unserer Gastgeber und bastelten Kinderspielzeug und Dekoration für die Kindertagesstätte, die hier aufgebaut werden soll. Aber uns fiel die Decke alsbald auf den Kopf, wollten wir doch gerade weg von der Arbeit im Sitzen am PC in Innenräumen. Umso mehr haben wir uns über Regenpausen gefreut, in denen wir uns trotz tropfender Höhlendecke mit Hacke und Schaufel austoben konnten. Seit einigen Tagen ist das Wetter wieder sonnig und trocken, sodass wir tagsüber im T-Shirt arbeiten können und die Gesichter langsam Farbe bekommen. Unser Gastgeber bezeichnete uns schon als lizards, zu Deutsch Echsen, da wir JEDE Möglichkeit nutzen, um Sonne zu tanken: Frühstück in der Sonne. Mittagessen in der Sonne. Kaffee- oder Teepause: ab in die Sonne! Wie habe ich das vermisst! Es tut mir wirklich leid, das an dieser Stelle sagen zu müssen, aber ein derart sonnenarmer Ort wie Clausthal wird mich so schnell nicht wiedersehen!
Neben der körperlichen Arbeit konnten wir beide unser Hobby, die Fotografie, zum Einsatz bringen. Wir hatten im Vorfeld überlegt, welche Fertigkeiten wir unseren jeweiligen Gastgebern anbieten könnten, denn handwerklich bringen wir vielleicht Geschick, aber keine gelernte Fertigkeit mit. Somit boten wir den beiden an, Fotos von der Farm zu machen, damit sie diese für ihre Webseiten und Facebook-Pages verwenden können. Schließlich machten wir an zwei Tagen ausführliche Fotoshootings mit den beiden und einer ihrer Freundinnen. Wir hatten dabei alle sehr viel Spaß und sind mit den Fotos zufrieden.

Die Ernährungsumstellung
Seit wir hier sind ernähren wir uns fast ausschließlich vegan. Zu Beginn mehr aus Notwendigkeit heraus, inzwischen aber haben wir die pflanzenbasierte Ernährung sehr zu schätzen gelernt! Einerseits sind verarbeitete Lebensmittel äußerst teuer in Israel und zum anderen hatten wir in den ersten zwei Wochen hier auf dieser Farm keinen Kühlschrank, sodass wir uns im Supermarkt lediglich Pitabrot, Linsen, Reis, Gemüse und Tee kauften sowie Tahin (Sesampaste) und Hummus, damit das Essen nicht zu trocken ausfällt, abgesehen davon, dass Hummus und Tahin traumhaft schmecken! Wir sind inzwischen reich an selbst kreierten, kreativen, leckeren und gemüsereichen Gerichten. Auch unsere Gastgeber ernähren sich vegetarisch und kochen für uns äußerst Abwechslungsreiches zum Frühstück und zum Mittagessen. Bei unseren Ausflügen nach Tel Aviv und Akko hätten wir immer die Möglichkeit gehabt, auch Fleisch zu konsumieren, aber die fleischlosen Alternativen sprechen uns einfach mehr an! Aus dem Garten beziehen wir Zitronen, Pomelos und Zitronengras.
Quinoa-Ingwer-Honig Porridge mit Khaki-Kumquat-Kompott Pasta mit Petersilienpesto Linsen-Paprika-Salat und Süßkartoffel-Kürbis-Ofengemüse serviert mit Tahin-Zitronen-Sauce Gefüllte Pita, Salat und Kumquat-Kompott als Frühstück im Bett <3 Gemischte Platte mit Kimchi, Hummus, Guacamole, Kartoffelsalat
Und wir so?
Die Frage, wie es uns mit unserer Entscheidung nach Israel zu gehen geht, kam nun schon öfter. Kurz beantwortet: ja, es ist eine Umstellung. Etwas ausführlicher gesagt: es ist eine größere Umstellung, als wir erwartet hatten. Die gewohnte Umgebung, aber auch die gewohnten Tätigkeiten und Freizeitbeschäftigungen sind weggefallen und wollen hier hinterfragt und eventuell ersetzt werden. Unwiederbringlich tun sich da die Fragen auf, wer wir eigentlich sind, was uns ausmacht und was uns wichtig ist. Darüber hinaus führt bei mir der Wegfall der alten Gewohnheiten zu Unsicherheit und innerer Unruhe – und das sage ich, die schon mehrfach für mehrere Monate im Ausland war, häufig umgezogen ist und sich immer wieder (gerne) ins kalte Wasser geworfen hat. Irgendwie war da in den vergangenen sechs Jahren in Clausthal wohl doch mehr Routine in mein Leben eingekehrt, als mir bewusst war. Und umso wohltuender sind die Veränderungen und damit einhergehenden Lernkurven. Nun ist fast ein Monat vergangen, seit wir in Tel Aviv gelandet sind. Wir sind uns selbst und unseren Bedürfnissen ein gutes Stück nähergekommen, durften viel über uns lernen und können ein vielseitigeres „Wir“ aufbauen. Unsere Gastgeber sind uns hier sicherlich auch eine Hilfe, denn die zwei sind äußerst selbstreflektierte, umsichtige und aufgeschlossene Gesprächspartner.
Leider brechen wir hier in wenigen Tagen unsere Zelte ab und machen uns auf zu einer anderen Farm weiter im Norden Israels, freuen uns aber, in unseren Gastgebern gute Freunde gefunden zu haben. Hoffentlich kommen wir bald zurück!
Die Namen unserer Gastgeber veröffentlichen wir aus privaten Gründen an dieser Stelle nicht.